Melker Garay wurde 1966 in Chile geboren und ist Schriftsteller. 1970 kam er nach Schweden und lebt heute in Norrköping. Umfangreiche Universitätsstudien in geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern.
Garays Bücher behandeln philosophische, theologische und existenzielle Fragen. Sein Debütroman Kyrkvaktmästarens hemliga anteckningar ist in mehrere Sprachen übersetzt worden.
2009 wurde Garay in den schwedischen Schriftstellerverband gewählt, 2012 in den schwedischen PEN und im November 2014 in den chilenischen Schriftstellerverband.
„Er schreibt, was viele nicht zu denken wagen.“
Clemens Altgårds Autorenporträt Skånska Dagbladet »
Er schreibt, was viele nicht zu denken wagen
Von Clemens Altgård
Kürzlich tauchte ein mystisches, konzeptuelles Buch mit dem Titel mcv auf. Es zeigt sich, dass es nur diese drei Buchstaben enthält, die auf 410 Seiten wiederholt werden. Aus dem beiliegenden Heft geht hervor, dass der schwedische Schriftsteller Melker Garay dieses merkwürdige Buch geschrieben hat. Möglicherweise etwas überraschend für jemanden, der, wie ich, die übrigen Bücher Garays gelesen hat. Vielleicht aber auch gar nicht überraschend. Das Interesse für Ideen und Philosophie ist charakteristisch für das Werk Garays.
Er debütierte vor sieben Jahren mit Kyrkvaktmästarens hemliga anteckningar (Die geheimen Aufzeichnungen des Küsters), und letztes Jahr weckte sein Erzählband Die Ratte berechtigte Aufmerksamkeit. Ein durchgehender Zug in jedem Buch liegt in der konsequenten Durchführung einer grundlegenden Idee.
Mit mcv knüpft Garay direkt an Jorge Luis Borges’ Novelle Die Bibliothek von Babel an. Dort wird eine unendliche, aber chaotische Bibliothek beschrieben, in der ein solches Buch vorkommt.
Als Melker Garay vor einiger Zeit Malmö besuchte, verabredete ich mich mit ihm zu einem Gespräch über Schreiben und Literatur. Sechs Bücher sind es bislang geworden, und ein siebtes ist unterwegs.
Melker erzählt, dass er in Chile geboren ist, aber seine Eltern kamen bereits einige Jahre vor Pinochets Militärputsch nach Schweden. Die Verbindung nach Chile ist allerdings nicht abgerissen.
Melker Garay schreibt über schwierige und gewichtige philosophische Themen, über den Tod und die großen metaphysischen Fragen. Worin liegt der Antrieb, frage ich.
„Für meine Mutter war es problematisch, in die schwedische Gesellschaft integriert zu werden. Mein Vater schien mit dem Leben zufrieden, aber meine Mutter habe ich als unglücklich empfunden. Ich habe etwas in mir, das mir durch die Jahre gefolgt ist. Auch wenn es im Leben gut läuft, kann ich die dunklen Seiten des Dasein nicht von mir weisen.“
Gerade die dunklen Seiten sind so etwas wie ein Thema des Erzählbands Die Ratte, der übrigens den Untertitel und andere böse Geschichten trägt. Ich staune ein wenig, als Melker mir erzählt, dass eine der Kurzgeschichten, die schaurige Die Mutter, in einer heiteren Umgebung geschrieben wurde. Es handelt sich um die herzzerreißende Gestaltung einer gestörten Mutter-Tochter-Beziehung, die von der Drogenabhängigkeit der Mutter geprägt ist.
„So geht mir das. Ich befand mich in einem Vergnügungslokal, wo alle um mich herum lachten und fröhlich waren. Dort bekam ich die Eingebung, die Erzählung zu schreiben.“
Es scheint also fast, als suchten Motive und Stoffe ihn auf, um erzählt zu werden. Aber so etwas erfordert selbstverständlich auch ein Interesse für die Kehrseiten der Gesellschaft. Womit wir ungezwungen auf die gesellschaftliche Kritik kommen, die sich in einem Buch wie der Ratte finden lässt.
„Ich bin wirklich empört über soziale Ungerechtigkeit“, sagt Melker, der sich selbst als jemand beschreibt, der eine Klassenreise vollzogen hat. Daher sind ihm die Universitäten so wichtig, und er betont, dass jeder unabhängig von sozialer Herkunft die Möglichkeit zu höherer Ausbildung haben müsse.
„Das soziale Gefälle wird stärker. Ich habe eine lange Reise gemacht, und ich möchte, dass andere diese Möglichkeit auch erhalten. So gesehen liegt mein Antrieb auch in einem Zorn über die Gesellschaft, auf die wir uns hinbewegen.“
Dennoch ist Melker Garay für mich kein vorrangig politischer Autor, jedenfalls nicht im konventionellen Sinn. Aber er scheint zweifellos ein ständig reflektierender, ja, fast grüblerischer Schriftsteller zu sein. Was sagt er selbst über den Antrieb zu seiner Arbeit?
„Ich stelle die Frage: Was ist ein Mensch? Ich schreibe die Bücher, von denen ich meine, dass ich sie schreiben muss. Es widerstrebt meiner Persönlichkeit, mich dem Markt anzupassen.“
Als ich ihn bitte, mir seine literarischen Vorbilder zu nennen, brauche ich auf die Antwort nicht zu warten.
„Pär Lagerkvist, Stig Dagerman und Ernest Hemingway.“
Diese Antwort überrascht mich nun gar nicht. Bei Melker gibt es eine Deutlichkeit des sprachlichen Ausdrucks, die man als kleinsten gemeinsamen Nenner mit eben diesen Schriftstellern betrachten kann. Mit einer derart schlichten Sprache ergibt sich auch die Möglichkeit, viele Leser zu erreichen.
Ehe wir uns voneinander verabschieden, liest Melker einen eben geschriebenen Text über einen Papagei vor, der hinter seinem Gitter sitzt und die Menschen außerhalb des Käfigs studiert. Die Menschen meinen, frei zu sein, aber sind sie es wirklich? Melker Garay schreibt weiter kompromisslos, was viele nicht einmal zu denken wagen.
Skånska Dagbladet, 15. Mai 2014
„Gott existiert jenseits von Gott.“
Guido Zeccola über Melker Garay in Tidningen Kulturen »
Melker Garay. Gott existiert jenseits von Gott.
Von Guido Zeccola
Melker Garay ist ein facettenreicher Schriftsteller unter den Mitarbeitern von Tidningen Kulturen. Von philosophischen Erzählungen bis zu hoch gelobten Novellensammlungen hat Melker Garay, 1966 in Chile geboren und seit seinem vierten Jahr in Norrköping wohnend, ein breites Spektrum erzählerischer Möglichkeiten aufgezeigt, das unvergleichlich ist. Kürzlich ist sein neues Buch Die Vogelscheuche – schattenhafte Kurzgeschichten erschienen, das auch als Hörbuch zu haben ist.
Aber Melker Garay hieß nicht so, als er seine ersten beiden Romane veröffentlichte, Kyrkvaktmästarens hemliga anteckningar (Die geheimen Aufzeichnungen des Küsters) und Josef Kinski och döden (Josef Kinski und der Tod). Er hieß Bent-Inge Garay. Noch früher hieß er Bent-Inge Garay Johansson. So konnte er nicht mehr heißen, aber er bekam allmählich ein Problem mit seiner Identität. Der Name sagte nichts über Melkers lateinamerikanische Identität. Und als er begann, Bücher auf Spanisch zu publizieren, hatten die Menschen außerdem Schwierigkeiten mit der Aussprache von „Bent-Inge“. Also wurde der Name geändert: Melker ist schwedisch, Garay chilenisch.
Seine früheren Romane bestehen aus faszinierenden Überlegungen zu Gott und Tod. Der Autor wird sich vermutlich nie von diesen Problemstellungen freimachen, falls es denn überhaupt erstrebenswert wäre. Sie sind auf die eine oder andere Weise immer in seinem Werk anwesend, auch in der Vogelscheuche. Was untypisch in einer so säkularisierten Gesellschaft wie der schwedischen ist. Garays Herkunft, mit einer katholischen Großmutter im Vordergrund, spielt sicher eine wichtige Rolle. Gleichzeitig erinnere ich mich an ein Gespräch mit ihm, bei dem er meinte, dass er in gewisser Weise ein enfant terrible in seiner Familie war. Gott ist eine Art Erfahrung, ein Gedanke, der dann artikuliert worden ist.
Aber das bedeutet nicht, dass Melker Garay ein unkritisch Gläubiger wäre – im Gegenteil. Liest man seine Bücher, wird deutlich, dass er kein Atheist, sondern eher ein rastloser Agnostiker ist. Er stellt ständig Fragen und sucht Antworten. Nein, Melker Garay ist sich nicht so sicher wie Nietzsche, dass Gott tot ist, aber er kann auch nicht mit Bestimmtheit sagen, dass Gott lebt.
Diese Fragen tauchen immer wieder auf, häufig in Form von Dialogen, wie in dem skurrilen Buch Dialogen (Der Dialog). Es handelt sich um eine Form von Hermeneutik, eher philosophisch als theologisch. Tatsächlich kommt sie immer wieder vor; in allen Büchern werden Fragen gestellt, die selten beantwortet werden.
Charakteristisch für den Autor sind sein intellektuelles Temperament, seine aufrichtige Neugier und seine Anspruchslosigkeit. Er sieht ein, dass das Gespräch mit anderen wichtig ist. Ohne Gespräch, ohne Dialog bleibt der andere ein Fremdling, und nichts ist möglich. Es geht nicht voran. Es ist die Aufgabe des Lesers zu entscheiden, ob Garay in seinen Texten einige Antworten gefunden hat. Er schreibt ausschließlich, weil es ihm ein starkes Bedürfnis ist. Ob das die Erzählung und die literarische Sprache positiv oder negativ beeinflusst, müssen wir Leser beurteilen.
In keinem der Bücher von Garay existiert irgendeine absolute Wahrheit. Er würde nie sagen: Dies ist die Wahrheit. Denn wer besitzt schon die Wahrheit? Er kann nur von der Wahrheit zeugen, die er selbst sucht. Vielleicht ist sich Garay bewusst darüber, dass alles lediglich eine Begegnung mit der Vergangenheit ist. Aber das bereits Gedachte, das Gesagte und Bekannte, die Tradition, das Gedächtnis – mit allem entsteht ein neues Denken, ein neues Wort.
Aber diese Illusion ist auch eine lebendige Erfahrung, die Inspiration, Improvisation, Liebe und Bosheit als fundamentale Momente eines Prozesses betrachtet. Und dieser Prozess ist das Schaffen. So bekommt das Leben eine neue Bedeutung. Das alles kann sich wie ein Streit, eine Illusion, ein Tanz am Rand der Ruinen ausnehmen; aber es gibt ihm auch die Möglichkeit, auf das Geschehen des Denkens und auf ansprechbare Gegenwart zu lauschen.
Der Autor hat auch die Aphorismensammlung Inskriptioner i skymningen (Inschriften in der Dämmerung) geschrieben. Das Buch besteht aus Gedankenstrophen zum Meditieren. Es ist von Ulf Lundkvist, einem bekannten schwedischen Comiczeichner, Maler und Illustrator, der ebenfalls in Norrköping lebt, meisterhaft illustriert. Woher kommt dieses Bedürfnis, kurze Reflektionen zu schreiben?
Vielleicht hängt es damit zusammen, dass der Autor neugierig auf alles ist und immer wieder versuchen muss, neue Formen zu finden, um sein Denken und Schreiben entfalten zu können. Und eine dieser Formen ist der Aphorismus, weiter nichts. Garay möchte nicht in ein Fach gesperrt werden. Manchmal muss er ironisch oder satirisch werden und seinen Humor zur Anwendung bringen, wahrscheinlich um eine Dynamik, eine Distanz zum Seriösen und nicht selten Kantigen zu schaffen.
Auch in dem genannten Werk Dialogen versucht er, eine Haltung gegenüber Gott – oder eher dem Absurden – einzunehmen. Und das Zitat, das den Debütroman einleitet, beginnt mit den Worten von Tertullian Credo quia absurdum (Ich glaube, weil es unsinnig ist). Die Gegenpole Macht und Verführung, Gott und Nichts, wie auch die wechselnden Positionen von Bemächtigung und Unterwerfung beziehen auch den Betrachter, den Leser ein. Irgendwie scheint er nicht lassen zu können, darüber nachzudenken, was geschehen könnte, wenn er sich damit begnügt hätte, sich lediglich zu verteidigen: seinen Glauben oder möglicherweise das Fehlen desselben, seine eigenen Erfahrungen und Theorien bezüglich des Lebens. Was eigentlich nicht erstaunlich ist, da wir es mit einem Denker zu tun haben.
Hätte der Autor einen anderen Weg wählen können? Offensichtlich ist Garay ein Mensch, der gern in schwierige Fragestellungen eindringt, dem aber auch der Blick vom Manuskript weg nicht fremd ist, um nach dem Fremden und Andersartigen außerhalb seiner selbst zu suchen. Nach dem, was den Menschen und dessen Lebensbedingungen definiert.
Plötzlich geschah etwas, das vielleicht eine Revolution in Garays Werk und Leben signalisiert. Er publizierte Die Ratte, eine Sammlung kurzer Erzählungen, und mit diesem Buch tritt bei ihm etwas ganz Neues hervor. Das Buch wurde sowohl bei Kritikern als auch bei Lesern viel beachtet, und die Rezensenten scheinen sich einig darüber zu sein, dass Garay ein sehr interessanter, neuer Schriftsteller ist, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde.
Fragt man ihn aber selbst, sagt er, dass es vermutlich wahr ist, dass er als Schriftsteller eine neue Bestätigung erfahren hat, aber er gehört nicht zu denen, die sich von ihren früheren Werken distanzieren, wenn es ihnen gelungen ist, etwas zu schreiben, was allgemein gelobt wird. Die Ratte ist nur ein Schritt auf dem Weg eines ständigen kreativen Prozesses, keineswegs ein Ziel. Die anderen Bücher haben weiterhin eine große Bedeutung für ihn.
Man kann einen roten Faden zwischen den Büchern, die von existenziellen Fragen handeln, und dem Erzählband Die Ratte ausmachen. Ohne die früheren Werke hätte Garay diese Erzählungen nicht schreiben können. Weder sprachlich noch inhaltlich unterscheidet sich das Buch nennenswert von seinen früheren Arbeiten, aber in der Ratte ist es ihm möglicherweise gelungen, seinen Stil noch mehr zu konzentrieren und das Essenzielle zu finden. Eher zu streichen als auszumalen. Er hat das Akademische abgeschwächt und hat im Vergleich zu früher eine größere Distanz zu den Dingen.
Es gibt ein, gelinde gesagt, höchst sonderbares Buch, das nach der Ratte herauskam und mcv heißt. Es besteht aus 410 Seiten, auf denen dieselben drei Buchstaben mcv pausenlos wiederholt werden. Ich kann mich erinnern, dass Crister Enander, der vorher in einer Besprechung den Debütroman bejubelt hatte, wütend wurde, als mcv erschien.
Tatsächlich ist Garay entzückt von Jorge Luis Borges. Er hat dessen Novelle Die Bibliothek von Babel gelesen, in der der argentinische Autor vom Vater des Erzählers spricht, der in einer grenzenlosen Bibliothek ein Buch findet, das nur aus dem Wort mcv besteht. Als Garay die Novelle las, bekam er die plötzliche Eingebung, das Buch aus der Fiktion in die physische Wirklichkeit zu übertragen.
Vielleicht sollte man auch erwähnen, dass Garay auf seiner Homepage einen kurzen Essay veröffentlichte, in dem er seine Gedanken über das Buch mcv beschreibt, das als eine Art von konzeptueller Kunst betrachtet werden kann. Garay meint, wie andere Denker auch, dass Borges irgendwie das Internet prophezeit, das im Grunde nichts anderes ist als eine enorme virtuelle Bibliothek. Dort gibt es unendliche Möglichkeiten von Bildung, was für ihn unerhört wichtig ist. Ohne Bildung können wir keine sinnvollen Gespräche führen. Ohne die unzähligen Folgesätze, die das Netz ermöglicht, wäre ein beträchtlicher Teil unseres Wissens unmöglich.
Ehe ich kurz von Garays neuestem Buch spreche, möchte ich über mögliche Einflüsse in Garays Werk nachdenken. Er selbst sagt, er sei neugierig auf alle Schriftsteller, aber vielleicht vor allem auf Pär Lagerkvist, Stig Dagerman, Lars Ahlin, Julio Cortázar, Horacio Quiroga, Inger Edelfeldt, Anna-Karin Palm und Tove Jansson. Ein anderer Autor, den Garay sehr schätzt, ist Vilhelm Moberg mit dessen Auswanderer-Epos. Verschiedene Erzählungen, die einander im selben Buch kreuzen und das noch heute brennend aktuell ist. Bei ihm selbst findet man auch Spuren von Virginia Woolf, Flannery O’Connor und Clarice Lispector, die allesamt bedeutende Novellisten sind.
Die Vogelscheuche, Garays neuestes Buch, schildert die dunklen Seiten des Menschen. Das Buch kann als Fortsetzung der Ratte betrachtet werden, ist aber noch mehr von den düsteren Aspekten unseres Lebens geprägt – von denen wir nicht so gern reden.
Wenn ein Mensch die Welt in sich aufnimmt und die Welt sich in ihm leicht und schmerzfrei spiegelt wie an einem schönen Frühlingstag, kann er sich der schlichten Freude überlassen. Die großen Dinge verschwinden.
Er lebt sein normales Leben, folgt den Gesetzen, hat seinen Glauben, kommt seinen Verpflichtungen nach – aber plötzlich geschieht etwas, das ihn aus allem heraus wirft, was er für die Wirklichkeit gehalten hat.
Er kann seine Werte, Überzeugungen und Versprechen nicht mehr verteidigen. Stattdessen wird er isoliert und ängstlich. Eine Kraft, die stärker ist als er selbst, hat ihn hinweg geschleudert. Es ist etwas Dunkles, aber nicht unbedingt Negatives.
Dort befindet sich die Finsternis, das Böse, bedrohlich im Dunkeln. Dennoch gibt es immer etwas, das in Frage stellt, was er geworden ist, es aber zulässt weiterzugehen.
Es ist ein sonderbares Buch, das Garay geschrieben hat, und ich bekomme Tränen in die Augen, wenn ich es lese. Hier stehen wir vor einem Schriftsteller, der, trotz seiner Anspruchslosigkeit, nicht mehr viel über Sprache und Stil lernen muss. Garay ist bereits einer der interessantesten Autoren in Schweden.
Auf garay.se kann man mehr über ihn lesen. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit Schwedens originellste Autoren-Homepage.
„Melker ist Gottes Nachbar.“
Magnus Sjöholms Reportage in Norrköpings Tidningar »
Melker ist Gottes Nachbar
Von Magnus Sjöholm
Melker war ein Einzelkind mit Bildungskomplex, baute eine dating site auf, die er verkaufte, wodurch er finanziell unabhängig wurde. Als 45-Jähriger konnte er wählen, was er tun wollte, und entschied sich, Schriftsteller in Norrköping zu werden.
Nachdem ich einen Interviewtermin mit Melker Garay verabredet habe, suche ich in der städtischen Bibliothek nach seinen Büchern. Der Schriftsteller nimmt eine Außenseiterposition innerhalb der schwedischen Literatur ein, ja, auch in den schwedischen Bücherregalen. Er ist unabhängig von Verkauf, Verlag oder Medien. Nicht einmal von Lesern ist er abhängig. Allerdings von Kritikern, wohlwollenden Kritikern. Einige der bekanntesten und eigensinnigsten Rezensenten haben seine Bücher bejubelt und Parallelen zu Kafka und Pär Lagerkvist gezogen. Andererseits haben nur wenige Tageszeitungen seine Bücher besprochen. Es ist, mit anderen Worten, Zeit für eine kurze Zusammenfassung.
In der Bibliothek sind drei seiner sechs Titel vorhanden. Alle drei sind schwarz, dünn und hübsch gebunden sowie mit einer wunderbaren Zeichnung von Ulf Lundkvist auf dem Umschlag versehen. Die beiden ersten, geschrieben von Bent-Inge Garay, sind feierliche, halbphilosophische Kurzromane in widerstandsfreiem Schwedisch. Sie wären leicht zu lesen, wenn es nicht um die Themen Gott, Tod und Existenzialismus ginge. Der dritte Titel, Dialogen, ist dramatisch, mit großem Stil und einer Form, die Zeigebüchern entlehnt ist. Dazwischen veröffentlichte Melker eine Aphorismensammlung. Seine beiden neuesten Bücher sind zum einen ein Band leicht humoristischer Kurzgeschichten über das Leiden, zum anderen ein Buch mit den Buchstaben mcv etwa 437000 Mal wiederholt. Bedenkt man außerdem, dass Melker 2007 debütierte, stellt sich das Werk als gespalten, schwierig zu definieren und widersprüchlich dar.
Melker Garay empfängt mich in einem hellrosa Hemd und blauen Jeans. Wir sitzen in seiner prächtigen Paradewohnung und trinken Nescafé und Coca-Cola. Ich beginne, indem ich ihn frage, warum Bent-Inge zu Melker wurde und ob nicht ein wenig von dem Ernst von „Bent-Inge“ durch ein etwas fantasievolleres Alter Ego ausgetauscht wurde?
Der Autor hat Antworten auf alle Fragen, aber häufig laufen die Antworten auf eigene Fragen hinaus. Ein wenig später preist er das Gespräch als ein intellektuelles Werkzeug und meint, dass Antworten eigentlich uninteressant seien; die Fragen sind das Primäre. Melker, wie er nun definitiv heißt, ist ein Mensch, der Fragen weckt.
„Wenn ich im Ausland lanciert werde, ist Bent-Inge zu kompliziert. Daher bediene ich mich nun meines zweiten Namens“, erzählt Melker.
In der Wohnung stehen oder liegen überall literarische Ikone und Reliquien. An jeder Wand hängt exklusive Kunst, und auf der anderen Seite der Straße hängt Gott. Ihm gegenüber hat Melker Garay ein enges Verhältnis, das von Tradition, Respekt, Widerstand und allerlei Neugierde geprägt ist. Melker selbst macht einen freundlichen, ehrlichen und neugierigen Eindruck. Warum ist es also so düster in seinen Büchern?
„Ich habe viel Einsamkeit erfahren. Es war eine frei gewählte Einsamkeit, eine Diktatur der Umstände. Ich ging zum Beispiel von einem Vorort zu Fuß zur städtischen Bibliothek und zurück, um zu lesen. Oder ich saß im Obergeschoss des Häuschens und las, aber all meine Literatur handelt im Grunde davon, mich selbst zu verstehen.“
Er wurde 1966 in Chile geboren; seine Mutter war Chilenin und vor allem Katholikin, während der Vater Sozialdemokrat war und später in einer Fabrik in Norrköping arbeitete. Vier Jahre nach Melkers Geburt nahm die Familie – einschließlich des jüngeren Bruders, der ein bekannter Kampfsportler ist – das Schiff nach Genua und von dort den Zug nach Norrköping.
Bent-Inges Weg zum Schriftstellerberuf war alles andere als gerade.
„Als ich 15 Jahre alt war, wusste ich nicht, was ich werden wollte. Mein Vater riet mir, Prozesstechnik zu studieren und in derselben Fabrik wie er zu arbeiten. Das tat ich zwei Jahre lang, aber es war nicht das Richtige für mich.“
Er studierte Wirtschaft auf dem zweiten Bildungsweg und bewarb sich danach um einen Studienplatz an der Hochschule in Karlstad.
„Einer der schönsten Augenblicke meines Lebens war es, als ich den Briefkasten öffnete und die Aufnahmebestätigung von Karlstad herausholte. Ich hatte ein aufgestautes Bedürfnis, von hier wegzukommen, selbständig und bestätigt zu werden. Wenn es etwas gibt, wofür ich hier in Schweden eine enorme Dankbarkeit empfinde, dann ist es die Tatsache, dass jeder die Möglichkeit zu einer Klassenreise hat. Du kannst, unabhängig von deinem Ursprung, an der Universität studieren. Bildung und das Gefühl, eine Ausbildung zu haben, ist etwas Wichtiges für mich.“
Melker wurde Volkswirtschaftler und sollte anfangen zu arbeiten, entschied sich aber, in Uppsala Wirtschaftsgeschichte zu studieren. Und danach vier Jahre Philosophie.
„2005 fingen wir an, die dating site e-kontakt.se aufzubauen. Nach zwei Jahren waren wir Schwedens größte und hatten 50 Angestellte hier in Norrköping und verkauften alles.“
Und warum hat er dann zu schreiben angefangen?
„Eine Antwort ist mein soziales Pathos. In gewisser Hinsicht finde ich es schwierig, Mensch zu sein. Ich bin finanziell unabhängig, aber gleichzeitig sehe ich all das Elend auf der Straße. Um es uns gut gehen zu lassen, müssen wir alles Unangenehme, alles Leiden verdrängen, wie wir es zum Beispiel in Syrien oder Griechenland sehen. Ich möchte keine Ungerechtigkeiten akzeptieren, wo Wohlstand und Geld für alle vorhanden sind.“
Bei erstbester Gelegenheit versuche ich, die vielen großen Bücherschränke zu überblicken. Ein heilloses Durcheinander mit Schlagseite zum Philosophischen. Nicht so viel Ausländisches, keine spanischen Titel, aber Dagermans Stockholmsbilen, das Melker als eine von vielen entscheidenden Literaturerfahrungen genannt hat. Ich frage nach weiteren, vor allem spanischsprachigen, aber Melker weicht aus.
„Wenn man über einen Schriftsteller spricht, entsteht immer das Bedürfnis, ihn zu kategorisieren. Hier bin ich wieder ein enfant terrible, denn ich bin neugierig auf alles. Ja, ich habe alle Sorten von Literatur gelesen, Kafka, Lagerkvist und so weiter, aber ich möchte nicht kategorisiert werden. Das ist ungerecht, sowohl mir als auch dem Leser gegenüber. Aber natürlich: auch südamerikanische Autoren sind mir wichtig.“
Er erzählt von seiner Jugend, als Mutter Catalina Pearl S. Buck las und Vater Rune im Auto Evert Taube sang. Um seine eigene Arbeit zu erklären, zitiert er fleißig: Voltaire, Strindberg, Turgeniew, Ingmar Hedenius, Ekerwald, Vilhelm Moberg, Murakami, Knausgård, Borges und andere.
Wenn ich davon ausgehe, was ich selbst gelesen habe, glaube ich, dass Melker seinen Ausdruck in seinen Kurzgeschichten gefunden hat, die er symbolisch nennt. Wir sprechen eine Weile darüber und beenden das Interview mit einem Gespräch über die Eigenart der Novelle. Auch der nächste Titel, der bereits im August erscheint, ist wieder eine Sammlung Kurzgeschichten.
„Borges sagt irgendwo, dass er nicht verstehe, wie Schriftsteller dicke Bücher schreiben können, wenn die Kernerzählung in zwei Minuten formuliert werden kann. Darüber habe ich viel nachgedacht. Vielleicht mache ich später Romane aus diesen Kurzgeschichten, das kann ich nicht ausschließen, aber derzeit passen mir diese symbolischen Erzählungen am besten.“
„Ich weiß, dass ich in vieler Hinsicht privilegiert bin, und empfinde Demut darüber. Es gibt viele Schriftsteller, die da draußen ringen, und es ist sehr schwierig. Aber ich glaube sehr stark an meine Sachen und mich selbst. Ich gebe nie einen Text ab, ohne dass er etliche Male durchgegangen worden wäre.“
Das siebte Buch heißt Die Vogelscheuche – schattenhafte Kurzgeschichten. Es wird interessant sein, wie es aufgenommen wird. Unabhängig davon, wo es erscheint.
Norrköpings Tidningar, 9. Juli 2015